Citizen Science ist längst nicht mehr nur in den Naturwissenschaften beliebt, sondern fasst in immer mehr anderen Fachgebieten, unter anderem auch in der Sprachwissenschaft Fuß. In sprachwissenschaftlichen Citizen Science-Projekten sammeln Teilnehmende Bilder von Schrift im öffentlichen Raum (beim Linguistic Landscaping), transkribieren historische Dokumente, wie alte Erhebungsbögen von Dialektwörterbüchern, Liebesbriefe oder Theaterzettel und beobachten ihre Kinder, ob sie Fremdsprachen im öffentlichen Raum unterscheidbar hören können.
Die Community rund um Citizen Science in der Sprachwissenschaft wächst stetig und das hat sich das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache zum Anlass genommen und Forscher*innen von 14. bis 15. Juli 2025 nach Mannheim eingeladen.
Dieser Einladung bin auch ich gefolgt. Aber nicht nur ich, sondern Wissenschafter*innen aus ganz Deutschland, Österreich, der Schweiz, Luxemburg und Italien. Damit waren viele deutschsprachige Regionen in Europa bei dieser Tagung vertreten. Zwei Tage lang wurde diskutiert, vernetzt, vorgestellt – und gemeinsam überlegt, wie ein Netzwerk zu Sprachforschung und Citizen Science gegründet und aussehen könnte.
Dass das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache der perfekte Ort für eine derartige Tagung ist, liegt nicht nur an seinem Auftrag, die deutsche Sprache zu dokumentieren, sondern auch an der engen Verknüpfung von Sprache mit Identität, Emotionen und gesellschaftlichen Prozessen. Neben der Dokumentation der deutschen Sprache verschreibt sich das Institut neuerdings auch Citizen Science, beispielsweise durch das Projekt „Sprachchecker", das Bewusstsein für Sprachschätze unter Kindern und Jugendlichen geschaffen hat, indem diese selbst (mehrsprachige) Lieder, Bücher und Videos verfasst und veröffentlicht haben. So konnte die Wertschätzung für sprachliche Vielfalt gesteigert und Einblicke in sprachliche Lebensrealitäten und -praktiken gewonnen werden.
Der erste Tag war der Vorstellung von sprachwissenschaftlichen Citizen Science-Projekten gewidmet. Die Themen und Ansätze reichten dabei von Linguistic Landscaping, Sprachwahrnehmung, Transkription von Liebesbriefen, Theaterzetteln und Wenkerbögen bis hin zu interdisziplinären Vorhaben, in denen Psychologie und Linguistik Hand in Hand arbeiten, um die sprachliche Tabuisierung psychischer Erkrankungen zu beleuchten. Auch Projekte aus Österreich waren vertreten, daruntereinige Sparkling Science-Projekte (das Förderprogramm für Citizen Science an Schulen in Österreich), wie. „Vielsprachiges Gedächtnis der Migration", „VisibLL – Schüler*innen erforschen die (un)übersehbare Mehrsprachigkeit der Wiener Linguistic Landscape" oder „SAG'S MULTI – Selbstermächtigung durch Mehrsprachigkeit". Auch die Crowdsourcing-Projekte an der Wienbibliothek im Rathaus wurden vorgestellt.
Schon über 100 Jahre alt und immer noch nicht vollständig aufgearbeitet sind die Wenkerbögen. Wenkerbögen sind im 19. Jahrhundert von Georg Wenker erhobene Fragebögen mit 40 Sätzen, die von Lehrpersonen in den örtlichen Dialekt übersetzt wurden und so eine flächendeckende Dokumentation der sprachlichen Vielfalt im deutschen Sprachraum zum Ziel hatten. Diese werden nun fleißig von Freiwilligen in unterschiedlichen Projekten transkribiert („Schweizerdeutsch 1930 / 2020" oder mittels der Transliterations-App des Deutschen Sprachatlas).
Besonders oft drehte es sich bei der Tagung um Linguistic Landscaping, also die Erfassung und Analyse von Schrift im öffentlichen Raum, um Sprachverwendung und Mehrsprachigkeit sichtbar (und erforschbar) zu machen. Dabei ziehen die Teilnehmenden mit offenen Augen und Kameras los, um Schilder, Plakate oder Graffiti zu dokumentieren. So lassen sich spannende Fragen beantworten: Welche Sprachen stehen auf Ladenschildern? Tauchen Dialekte eher auf Werbeplakaten für Lebensmittel auf? Und welche Sprache steht bei mehrsprachigen Schildern zuerst?
Und wenn es um Linguistic Landscaping geht, dann darf Lingscape selbstverständlich nicht fehlen.
Manche Citizen Science-Projekte können auch aus Versehen entstehen, so wie Lingscape. Ursprünglich sollte die App nur einen Einblick in die sichtbare Mehrsprachigkeit Luxemburgs geben, heute ist sie eine weltweit genutzte Plattform für die Erforschung von Linguistic Landscapes. Ein großes Dankeschön dafür, dass wir (also andere Projekte) die Lingscape-Infrastruktur kostenlos nutzen dürfen! Auch in unserem Projekt „In aller Munde und aller Köpfe – Deutsch in Österreich" war Lingscape nicht wegzudenken bei unseren linguistischen Schnitzeljagden. Besonders toll an Lingscape ist: Die App wird kontinuierlich weiterentwickelt und steht allen offen, anstatt dass jedes Projekt (mit einem Linguistic Landscaping-Ansatz) sein eigenes App-Süppchen kochen muss.
Die Tagung machte eins deutlich: Sprachwissenschaftliche Citizen-Science-Projekte stehen vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie Projekte in anderen Disziplinen: von Fragen der Datenqualität über die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Motivation der Teilnehmenden bis hin zu unterschiedlichen Erwartungen der Beteiligten.
Dass auch das Drumherum seine Tücken hat, zeigte sich in mehreren Projekten, denn die Rahmenbedingungen können zur echten Herausforderung werden. So lässt die Motivation von Schüler*innen oft schnell nach, wenn die Aufgaben nicht „notenrelevant" sind. Auch die klassischen Rollenbilder und Hierarchien in der Wissenschaft lassen sich (durch Citizen Science) nicht so leicht aufbrechen. Die Einbindung von Expert*innen aus Erfahrung stößt in der Praxis noch auf viele Stolpersteine: Fördergeber sehen in der Regel keine Lohnkosten für nicht akademisch ausgebildete Personen vor, und auch Universitäten und Forschungsinstitutionen sind bislang kaum auf die Zusammenarbeit mit Citizen Scientists eingestellt.
Bei Aktivitäten im Freien wiederum, wie beim Linguistic Landscaping spielt nicht nur die grundlegende Motivation der Teilnehmende eine Rolle, sondern auch das Wetter: Weder Dauerregen noch brütende Hitze bei über 30 Grad machen Lust aufs Fotografieren. So muss man sich beim Linguistic Landscaping mit Schüler*innen bei Sommer, Sonne, Sonnenschein eben damit abfinden, dass es mehr Bilder von Schildern auf der schattigen Straßenseite gibt.
Ein weiteres Thema war die Frage der Freiwilligkeit. In Schulprojekten erledigen Schüler*innen die Aufgaben oft im Unterricht: wirkliche Wahlfreiheit gibt es da nicht. Gleichzeitig bieten gerade Schulen eine einzigartige Chance, Kinder an Forschung heranzuführen, die sonst vielleicht nie direkten Kontakt mit Wissenschaft hätten. Konzentriert man sich in einem Citizen-Science-Projekt jedoch ausschließlich auf die Schüler*innen, die ohnehin begeistert mitmachen wollen, läuft man Gefahr die Selbstselektion in Citizen Science zu verstärken.
Ein weiteres Thema war die Motivation der Teilnehmenden. Spannend ist dabei die Frage, ob sie sich mit dem Forschungsprozess und dem Thema des Projekts identifizieren (können).
Wie unterschiedlich die Motivation auf Seiten der Teilnehmenden ausfallen kann, hat sich in den Vorträgen gut gezeigt. Während in manchen Projekten die Teilnehmenden schon Schlange stehen und nur auf ihren nächsten Einsatz warten, kämpfen andere darum, die Teilnehmenden bei der Stange zu halten. Die Möglichkeiten reichen hier von Ranglisten, die zeigen, wer die meisten Beiträge geliefert hat, bis hin zu gemütlichen Lesecafés, in denen sich Teilnehmende und Forschende bei Kaffee und Kuchen austauschen können. Besonders wichtig ist dabei Transparenz – die Teilnehmenden möchten ihre Entscheidungen und Herausforderungen (z.B. beim Transkribieren) offen teilen und gemeinsam (mit anderen ‚Teilnehmenden und den Wissenschafter*innen) besprechen.
Manche Hürden, wie die Kurrent-Schrift beim Transkribieren, können zwar zunächst abschrecken, lassen sich aber auch als spannende Challenge „verkaufen": Eine Steigerung des Schwierigkeitsgrads sozusagen. Interessiert das Thema und die Aufgabe die Teilnehmenden wirklich, verlieren selbst Altersunterschiede oder vermeintliche technische Barrieren schnell an Bedeutung: Ist die Motivation groß genug, werden sogar Technikmuffel zu IT-Profis.
Und dann war da noch der Dauerbrenner in Citizen-Science-Projekten: das Thema Datenqualität. Beim Linguistic Landscaping heißt es zum Beispiel: Handy zücken, Foto machen und anschließend die Sprache(n) auf dem fotografierten Plakat bestimmen. Aber dazu muss man die Sprache überhaupt erst einmal richtig erkennen. Bei der Transkription alter Dokumente greift dagegen das Prinzip der Schwarmintelligenz, um die Qualität der transkribierten Volltexte zu gewährleisten: Was eine Person transkribiert, kontrollieren andere noch einmal. So entsteht Schritt für Schritt aus krakeliger Handschrift ein weiter nutzbarer Volltext.
Mit der Balance zwischen Citizen Science, Wissenschaftskommunikation und Bildung(-sauftrag) kämpften gleich mehrere anwesende Projekte. Einerseits gilt es, in der Linguistik hohe wissenschaftliche Qualitätsstandards einzuhalten. Andererseits bringen Teilnehmende wertvolle Perspektiven mit oder erweitern ihre Kompetenzen durch die Mitarbeit an einem Citizen Science-Projekt.
Doch Wissenschaft spricht oft ihre eigene Sprache, und die Terminologie kann schnell zur Hürde werden. Manche Projekte reagieren darauf, indem sie weniger an Begrifflichkeiten festhalten und auch mal von der Sprache der Wissenschaft abweichen. Gleichzeitig braucht es eine gewisse Komplexität, um Qualität zu sichern – was Teilnehmende aber auch überfordern kann. Wenn sie dagegen selbst Forschungssettings gestalten dürfen, etwa eigene Interviews planen und durchführen, weichen die Ergebnisse manchmal von denen der Wissenschaftler*innen ab.
Vielen Teilnehmenden ist gar nicht bewusst, welche Fähigkeiten sie ganz nebenbei durch die Teilnahme an einem Citizen Science-Projekt erwerben – vom kritischen Denken und selbstbewussteren Umgang mit Sprache bis hin zur systematischen Herangehensweise an Fragestellungen.
Bei der Arbeit mit Schulklassen müssen Citizen Science-Aktivitäten in den ohnehin eng getakteten Stundenplan passen, weswegen die Aktivitäten oftmals an der jeweiligen Schule stattfinden. Allerdings kann ein Tapetenwechsel bei Schüler*innen auch Wunder wirken: So berichteten gleich zwei Projekte, dass die Schüler*innen nach einem Besuch an der Uni gleich viel motivierter waren.
Die Präsentation der Projekte hat gezeigt, dass sich klassische Forschung und Citizen Science gut kombinieren lassen, es jedoch manchmal schwierig sein kann, viele verschiedene Ansprüche unter einen Hut zu bringen.
Aber nicht nur die Motivation der Teilnehmenden ist entscheidend. Manchmal kommen auch „soziale Gesetzmäßigkeiten" zum Tragen. Für jene Projektleiter*innen, die glauben: „only big is beautiful" (also je mehr Menschen in ihrem Projekt mitmachen, desto besser), gibt es hier einerseits einen Dämpfer, aber andererseits auch eine gute Nachricht: Man braucht nicht immer eine riesige Crowd, um viel zu bewegen. Oft gilt das Paretoprinzip: 20 % der Beteiligten leisten 80 % der Arbeit. Ein kleiner motivierter Kreis an Beteiligten kann also viel bewirken. So hat beispielsweise eine einzelne Person im Projekt der Wienbibliothek im Rathaus über 10.000 Theaterzettel und Briefe transkribiert. Unterschätze also niemals deine Crowd (und schon gar nicht die Leistung von Einzelnen)!
Einige zentrale Punkte standen immer wieder im Fokus: Motivation ist entscheidend, Aufgaben sollten klar kommuniziert werden und sich steigern lassen und für die Teilnehmenden müssen die Ergebnisse ihres Engagements „greifbar" sein. Außerdem zahlt es sich aus, potenzielle Teilnehmende schon in die Projektplanung einzubeziehen. So lassen sich spätere Hürden vermeiden. Von Anfang an klarzumachen, welchen Mehrwert und welche Wirkung das Projekt hat, ist dabei besonders wichtig.
Auch kritischen Fragen gilt es sich in der (sprachwissenschaftlichen) Citizen Science-Landschaft als Wissenschafter*in zu stellen: Beispielweise warum Fördergelder für „so eine Forschung" bereitgestellt werden oder warum sich Wissenschafter*innen „von so weit her" für den lokalen Dialekt einer Region interessieren, aber nicht die nächstgelegene Uni.
Auch ein wichtiger Punkt war, dass Citizen Science Erwartungsmanagement auf allen Ebenen benötigt: Citizen Science ist kein Selbstläufer, es erfordert einen hohen Betreuungsaufwand, die Instandhaltung von technischer Infrastruktur und ständige Kommunikation.
Von Teilnehmenden besonders geschätzt wird der persönliche Austausch, sowohl zwischen Teilnehmenden und Forschenden als auch unter den Teilnehmenden selbst. So organisiert die Wienbibliothek im Rathaus etwa Crowd Cafés, bei denen bei Kaffee und Kuchen Erfolge, Erfahrungen und Bedürfnisse direkt geteilt werden. Auch Spezialführungen, kleine Anerkennungen oder der bloße persönliche Kontakt mit den Forscher*innen stärken die Motivation.
Ähnlich ist es beim Projekt des Liebesbriefarchivs „Gruß und Kuss": Hier können Interessierte nicht nur ihre Liebesbriefe als Quelle der Alltagskultur spenden, sondern auch aktiv bei der Analyse mitarbeiten. Bei Liebesbrief-Stammtischen werden Briefe gemeinsam gelesen, entziffert und Erkenntnisse über Alltagsleben, Gefühlsausdruck und Kultur geteilt.
Dass Citizen Science zu den Leuten kommen muss (und nicht umgekehrt) zeigen Projekte wie Sprachwissenschaft auf Rädern, ein mobiles Sprachlabor, das Dialektforschung direkt auf den Marktplatz bringt.
Besonders spannend war auch die Idee, den eigenen Dialekt zu erwandern: Dialektforschung mal aktiv auf Schusters Rappen!
Dialektprojekte sind übrigens ideal, um Bürger*innen für sprachwissenschaftliche Forschung zu begeistern, denn sie bieten zahlreiche Mitmachmöglichkeiten. Ich habe ja schon über die Bedeutung der Rahmenbedingungen gesprochen, aber die Bürokratie habe ich bisher ausgespart. Denn so ein Dialekt-Wanderweg wäre super, wenn da nicht jede Menge Genehmigungen von diversen Stellen nötig wären. Bevor man also überhaupt ein Dialektschild im Wald aufstellen kann, gilt es einmal von Pontius zu Pilatus zu laufen und den Amtsschimmel zu zähmen.
Auch die Frage „Wo beginnt Citizen Science und wo hört es auf?" wurde mehrmals im Zuge der Tagung aufgeworfen. Muss Citizen Science außerhalb der Universität stattfinden? D.h. können Studierende keine Citizen Scientists sein, weil sie sich in wissenschaftliche Ausbildung befinden? Eine andere Frage war auch: Kann man Schüler*innen zu Forscher*innen machen?
Lustig waren außerdem die von den Projektleiter*innen berichteten Aha-Momente der Teilnehmenden, wie beispielsweise, dass sie nicht gedacht hätten, dass die Geisteswissenschaften so systematisch arbeiten. Ja, Geisteswissenschaften sind halt auch nur Wissenschaften 😉.
Bevor ich es vergesse: Ich habe auch etwas präsentiert: ein abgeschlossenes und ein neues Projekt:
UniTermGPT Folien: https://zenodo.org/records/16263013
IamDiÖ-Folien: https://zenodo.org/records/16264374
Und hiermit auch das Dankeschön an den Fördergeber:
Dieser Blogbeitrag wurde im Rahmen des Projekts University terminology in German in the age of ChatGPT (UniTermGPT) realisiert, das durch das Programm EC-MCSA Seal of Excellence von der Autonomen Provinz Bozen - Abteilung Innovation, Forschung, Universität und Museen finanziert wurde.
By accepting you will be accessing a service provided by a third-party external to https://www.citizen-science.at/