© Iris Ranzinger
Institution: Akademie der bildenden Künste Wien / IKL und Labor für empirische Bildwissenschaft, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
Projektleitung: Martina Fineder und Luise Reitstätter
Karl-Schweighofer-Gasse 3 / DG 19 / A-1070 Wien
bzw. Garnisongasse 13, Hof 9 (Campus)
A - 1090 Wien / Vienna
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Stadt-Land-Kind

Eine intergenerative Ethnographie zu Sehnsuchtsbildern vom Land

Ausgehend von der europaweit einzigartigen Fotosammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde untersuchte das Forschungsprojekt „Stadt-Land-Kind“ den Mythos vom besseren Leben auf dem Land aus einer intergenerativen Perspektive. Im Dialog mit Wissenschaftler*innen erforschten Kinder und Jugendliche gängige Land-Konstruktionen und entsprechende Bild- und Bedeutungsproduktionen im Austausch mit Eltern- und Großeltern-Generationen. Gefragt wurde nach den gesellschaftlichen Entwürfen und (Zukunfts-) Versprechen, die Bilder vom idyllischen Leben auf dem Land so tiefgreifend in sich tragen. Was sehen und erspüren wir, wenn wir diese häufig rückwärtsgewandten Bilder mit unserem Leben in der Gegenwart in Verbindung setzen?

Ziel war zum einen die Dekonstruktion gängiger Authentizitätsvorstellungen, wie sie sich Tourismus-, Produkt- und Politikinszenierungen mit Bildern vom Land heute zu Nutze machen. Zum anderen strebte das Projekt über die Frage, mit welchen Bildern wir unsere Geschichte vom Land „schreiben“, eine Aktualisierung von Landvorstellungen durch eine kritische Analyse historisch und kulturell konstruierter Sehnsuchtsmotive sowie durch das aktiv-reflexive Generieren neuer Landbilder an.

Über den Projektzeitraum von zwei Jahren wurde in intensiver Zusammenarbeit mit drei Partnerschulen aus drei ländlichen Regionen Österreichs – Waldviertel, Osttirol und Bregenzerwald – geforscht. Mit der Volksschule Rastenfeld (NÖ), der Neuen Mittelschule Kals am Großglockner (T) und der Werkraumschule Bregenzerwald (V) umfasste diese Konstellation zudem drei Altersstufen und drei verschiedene Schultypen. Insgesamt waren mit den Schüler*innen, ihren Familien und weiteren lokalen Teilnehmer*innen über 100 Citizen Scientists eingebunden, welche eine Differenzierung alters- und regionenspezifischer Sichtweisen ermöglichten. In der gemeinsamen Feldforschung und kollektiven Bildanalyse kam eine Kombination aus drei Formaten zur Anwendung: die eigens entwickelten Intergenerativen Bildgespräche und Fotoexpeditionen sowie die der Tradition der historisch-ethnografischen Feldforschung entlehnte Postkarte als Forschungsbericht. Während die Schüler*innen bei den Intergenerativen Bildgesprächen ihre persönlichen Erinnerungen, Erfahrungen sowie ihr Wissen und ihre Zukunftsvorstellungen zum ländlichen Leben über historische und aktuelle Landbilder mit ihren Eltern, Großeltern, Lehrpersonen und Nachbar*innen teilten, produzierten sie in den Fotoexpeditionen neue Bilder vom Land. Über diese persönliche Perspektive der Kinder und Jugendlichen auf ihre ländliche Umgebung wurden bewusst gängige Bildpolitiken zur visuellen Produktion ländlicher Idyllen konterkariert. Als Zeitdokumente fanden 108 Fotografien und 50 Postkarten Eingang in die Sammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde.

Aus den vielfältigen Erkenntnissen und visuell-materiellen Produktionen ging als öffentliche Plattform die Forschungsausstellung Retropia. Sprechen über Sehnsuchtsbilder vom Land hervor. Die Ausstellung, die von April bis Juni 2019 im Österreichischen Museum für Volkskunde lief, führte unter Mitbeteiligung der Schüler*innen in die Forschungsarbeit ein und setzte durch das Top Citizen Science-Erweiterungsprojekt „Stadt-Land-Bild. Eine soziale Bildanalyse zeitgenössischer Sehnsuchtserscheinungen“ das Forschen mit Besucher*innen im Ausstellungsraum fort.

Die Ausstellung veranschaulichte als Kernerkenntnis die neue Sehnsucht nach dem Land als ein höchst relationales Phänomen. Vorstellungen von einem guten Leben auf dem Land hängen nicht unbedingt mit bestimmten geographischen Regionen, Orten oder Plätzen zusammen. Vielmehr sind diese durch biographische Erfahrungen und aktuelle Lebenssituationen geprägt, welche beim Sprechen über die Bilder auf eine multi-sensorische und multi-perspektivische Art und Weise evoziert wurden. Dabei präsentierte sich die Sehnsucht nach dem Land vor allem in Form von Alternativkonstruktionen zum jeweiligen Alltag und zur Gegenwart. Im Generationenvergleich zeigte sich etwa bei Menschen aus der Elterngeneration ein verstärktes Bedürfnis nach Ruhe und Entschleunigung, das insbesondere als Versprechungen des einfachen Landlebens früherer Zeiten wirksam wird. Die Erinnerungen an sinnlich-körperliche Erfahrungen, etwa durch Handwerken oder Wandern, stellten hingegen für alle Generationen wichtige Bezugspunkte zum Landleben her. Während es sich für die Schüler*innen dabei zumeist um vergnügliche Freizeiterfahrungen handelte, reagierten manche Personen aus der Großelterngeneration mit Erinnerungen an entbehrungsreiche Zeiten auf historische Fotografien und brachten kritischere Perspektiven auf die Vorstellung von der „guten alten Zeit“ ein.

Für die Wissenschaftler*innen ergab sich aus dieser Zusammenführung unterschiedlicher Sichtweisen und Erzählungen in den Intergenerativen Bildgesprächen in Kombination mit den Erfahrungen aus dem aktiv-reflexiven Bildgenerierungsprozess mit den Schüler*innen in den Fotoexpeditionen und Postkarten-Workshops ein vielseitiger und vielschichtiger Erkenntnisgewinn. Der bildungspolitische Impetus des Projekts realisierte sich dabei über die Auseinandersetzung mit einem offenen Heimatbegriff sowie der Erweiterung von Visual Literacies bei den Schulkindern und deren Familien. Der wissenschaftliche Gewinn resultierte aus der konkreten empirischen Bestandsaufnahme des so zeitgeistigen, aber oft auch vage besprochenen Phänomens der Landsehnsucht, welche über die inhaltliche als auch visuell-materielle Analyse differenziert gefasst werden konnte.

 

Team:

Martina Fineder, Paul Reiter (Akademie der bildenden Künste Wien)
Luise Reitstätter, Mark Elias Napadenski (Universität Wien)
Herbert Justnik, Astrid Hammer, Katharina Zwerger-Peleska (Volkskundemuseum Wien)
Iris Ranzinger (Fotografie, digitale Bilder, Archive)

Projektlaufzeit & Projektpartner*innen:

Das Projekt „Stadt-Land-Kind“ war ein Projekt der Akademie der bildenden Künste Wien in Kooperation mit dem Labor für empirische Bildwissenschaft am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, dem Österreichischen Museum für Volkskunde, dem Werkraum Bregenzerwald, der VS Rastenfeld, der NMS Kals am Großglockner und der Werkraumschule Bregenzerwald. Es lief von 1. September 2017 bis 31. Oktober 2019, durchgeführt wurde es im Rahmen des Förderprogramms Sparkling Science, gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

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Forschungsausstellung "Retropia. Sprechen über Sehnsuchtsbilder vom Land"
Gelesen 11032 mal| Letzte Änderung am Donnerstag, 06 Mai 2021 18:33